Männer, die in Brillen starren – Erzählungen aus der virtuellen Realität

Virtual Reality – kurz: VR – war schon ein heißes Thema, als ich vor über zehn Jahren Informatik an der Uni Bremen studiert habe. In der Praxis sah Virtual Reality damals so aus: Man baute eigens einen Raum auf, eine sogenannte Cave. Deren Wände waren idealerweise gewölbt, damit die künstliche Welt nicht durch störende Ecken unterbrochen wurde – denn auf diese Wände projizierten mehrere Beamer synchron die Simulation einer in Echtzeit und 3D berechneten Umgebung.

Staken durch den virtuellen Dschungel

An zwei studentische Projekte aus dem Jahr 2004 erinnere ich mich noch besonders gut: Bei einem stakte man auf einem Floß durch die vorbeiziehende 3D-Grafik eines Dschungels (in dem gab es animierte Säbelzahltiger und andere Monster, die seltsam blaue Haut hatten). Das Floß rührte sich dabei nicht wirklich vom Fleck, lediglich die Bewegung der Stange in der Hand des Benutzers wurde von Sensoren erfasst und beeinflusste dadurch das Tempo, in dem die Landschaft in der Projektion achteraus glitt.

Die Technik unter dem fliegenden Teppich

Beim anderen VR-Projekt ging es rasanter zu, denn da kurvte man auf einem fliegenden Teppich durch die Luft. Der Teppich war auf eine Holzplatte geklebt, in zwei Achsen beweglich gelagert und pneumatisch (oder hydraulisch?) gedämpft. Man konnte seine Ausrichtung durch Verlagern des eigenen Gewichts verändern und dadurch den Teppich steuern. Hatte man Tempo aufgenommen, blies einem sogar Fahrtwind ins Gesicht – auf dem folgenden Foto ist am Rand des projizierten Himmels oben der Luftauslass für die Windmaschine zu erkennen.

Fliegen auf dem Teppich durch die VR

Die Idee der VR erlebt gerade wieder eine Renaissance. Allerdings hat sie sich aus ihren Caves befreit und steckt kompakt in Brillen, in die man nur hinein-, aber nicht hindurchsehen kann, und die an zugeklebte Tauchermasken erinnern.

Solche Brillen wie die Oculus Rift oder die Samsung Gear VR haben den unschlagbaren Vorteil, dass man nicht mehr einen kompletten Raum umbauen muss, um in die virtuelle Realität einzutauchen. Auf der anderen Seite kann so ein Sichtgerät immer nur bei einem Benutzer zur Zeit auf der Nase sitzen. Und so ist das Internet voll mit Videos von Leuten, die in undurchsichtige Brillen schauen, den Kopf hin und her drehen und ihren Zuschauern dabei erzählen, was sie gerade erleben. Damit wird über eine Technik, die vielen noch wie Zukunfstmusik vorkommen mag, auf eine Weise kommuniziert, die schon die Epen Homers durch die Jahrtausende trug: Durch Erzählen und Zuhören.

Das hat handfeste Gründe. Bei der Samsung Gear VR zum Beispiel läuft die gesamte VR-Darstellung auf einem handelsüblichen Smartphone – versucht man, auf demselben Gerät die live erzeugten stereoskopischen Videos mitzuschneiden, geht die Hardware in die Knie und die virtuelle Welt fängt an zu ruckeln. Aber selbst bei Systemen, die nicht mit diesem Problem kämpfen, etwa der Oculus Rift, ist der Mitschnitt der Videos nur ein müder Abklatsch des eigentlichen Erlebnisses: Der räumliche Eindruck stellt sich nicht ein, wenn man die Bilder für beide Augen einfach nur so nebeneinander auf dem Bildschirm sieht. Die Darstellung erscheint verzerrt, weil die kalkulierte Verzeichnung durch die eingebauten Linsen der Brille fehlt. Die Bilder füllen längst nicht das gesamte Gesichtsfeld aus. Vor allem reagiert die Darstellung nicht auf eigene Kopfbewegungen. All dies macht aber gerade den Eindruck aus, mit Haut und Haaren in die simulierte Welt einzutauchen. Da bleibt wirklich nur, es selbst zu erleben und davon zu erzählen.

Und ja, es ist eine wirklich intensive Erfahrung, die noch am ehesten mit einem sehr plastischen Traum zu vergleichen ist.

Mini-Me – ich in 3D

Es gibt mich jetzt auch in klein – knapp 20 Zentimeter hoch, im Maßstab von etwa 1:9, aus gefärbtem Gips in 3D gedruckt. Sowas kommt vor, wenn man bei einer großen Computerzeitschrift arbeitet und – um darüber zu berichten – ab und zu auch mal Dinge ausprobiert, die sich nach Science-Fiction anhören.

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Diese Figur von mir hat der Berliner 3D-Scanner-Hersteller und Druckdienstleister Botspot freundlicherweise eigens für den Artikel angefertigt. Mein Kollege und ich sind nach Berlin gefahren, zum Botspot-Geschäft im Materialkaufhaus Modulor am Moritzplatz, um 3D-Scans von uns machen zu lassen. Der Scan funktioniert dort über Fotogrammetrie, ein Verfahren, das ursprünglich aus dem Landvermessungswesen kommt. Bei Botspot sind dafür in einem speziellen Raum über 60 Spiegelreflexkameras montiert, die alle zeitgleich ausgelöst werden und die Person in ihrer Mitte aus lauter unterschiedlichen Blickwinkeln aufnehmen. Aus den Fotos berechnet dann eine spezielle Software das 3D-Datenporträt.

Das Ganze fühlt sich erstmal so ähnlich an wie ein Fototermin für ein Bewerbungsbild: Man verabredet mit dem Fotostudio eine Zeit, überlegt sich, was man anzieht, denkt noch mal über die Haare nach (falls man mehr davon hat als ich) und macht sich schließlich auf den Weg. Im Studio wird man freundlich empfangen, fühlt sich aber doch nicht so gelöst wie gewünscht, wenn die Kamera auf einen gerichtet ist. Dann werden ein paar Aufnahmen gemacht – bitte recht freundlich –, man sieht eine Vorschau auf dem Bildschirm, nickt die Aufnahme ab und verabschiedet sich. Das ist alles mäßig aufregend, aber nicht unbedingt neu.

Umso seltsamer ist allerdings der Moment, an dem ein paar Tage später ein kleines Paket ankommt. In dem Paket ist ein Schaumstoffklotz, in dem Schaumstoffklotz ist eine Höhlung und in der Höhlung liegt eine irritierend realistische Miniatur seiner selbst. Ich kann mich daran erinnern, dass es ähnlich komisch war, als Kind zum ersten Mal auf einer Kassettenaufnahme die eigene Stimme zu hören. Oder die erste Video-Aufnahme: Man schaut aus der Perspektive eines anderen Menschen auf sich selbst, aus Blickwinkeln, die man im Spiegel nie zu sehen bekommt, dazu bewegt sich das Bild und man hört sich vielleicht auch noch selbst reden. Die eigene innere Wahrnehmung wird mit der scheinbar objektiven Wahrnehmung des Videos konfrontiert.

Von ganz ähnlicher Qualität ist die erste Begegnung mit dem geschrumpften Ebenbild aus Gips. Nein, man hat keine Phantomschmerzen, wenn jemand die Figur mit einem Zahnstocher piekt, und ich bekomme auch keinen Muskelkater davon, wenn ich das Foto oben länger anschaue (so ein auf die rund zehnfache Größe aufgeblasener Bleistift würde sicher ein paar Kilo wiegen…). Aber solche fotorealistischen 3D-Figuren sind eine neue Darstellungsform, mit der man erst mal einen Umgang finden muss – so wie sich vor ein paar Generationen Menschen an die damals neue Porträtfotografie gewöhnen mussten, die Bildnisse stets nur als Gemälde und Zeichnungen kannten (die zudem nur den Reichen und Vornehmen vorbehalten waren).

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Derzeit fühlt sich ein solcher 3D-Scan mit folgendem 3D-Druck wie etwas an, was man vielleicht nur einmal im Leben macht – so wie man das im 19. Jahrhundert vielleicht vom Fotoporträt dachte. Deshalb habe ich für meinen Scan auch mein Lieblings-Ringelhemd angezogen. Und mich entschieden, den 3D-Raum ohne Schuhe zu betreten – weil ich mich so wohlfühle. Womit ich nicht gerechnet habe: Dass meine Figur barfuß ist, scheint manche meiner Bekannten mehr zu irritieren als die Tatsache, dass es mich jetzt zweimal in zwei verschiedenen Größen gibt.