Mit Volldampf nach Transsylvanien

„3 Mai. Bistritz. Verließ München um 8:35 am Abend am ersten Mai und kam früh am nächsten Morgen in Wien an; ich hätte um 6 Uhr 46 dort sein sollen, aber der Zug hatte eine Stunde Verspätung. Budapest scheint eine wundervoller Ort zu sein, nach dem zum schließen, was ich aus dem Zug und auf den wenigen Schritten durch die Straßen sehen konnte. Ich hatte Bedenken, mich weit vom Bahnhof zu entfernen, da wir spät angekommen waren und so dicht wie möglich an der vorgesehenen Zeit wieder weiterfahren würden. […]

Ich musste mich beim Frühstück beeilen, weil der Zug kurz vor acht ging, oder eher: weil er dann gehen sollte, denn nachdem ich zum Bahnhof geeilt war, saß ich über eine Stunde im Wagen, bevor er sich in Bewegung setzte. Mir scheint, je weiter man nach Osten kommt, desto unpünktlicher werden die Züge. Wie muss es erst in China sein?“

Auch wenn es auf den ersten Blick so klingt: Der umgeduldige Verfasser dieser Zeilen ist nicht Phileas Fogg, der mit der Präzision eines Uhrwerks und unter Nutzung der seinerzeit modernsten Verkehrsmittel in 80 Tagen um die Welt eilt, um die von Jules Verne ausgedachte Wette zu gewinnen – nein, wer sich hier über die Pünktlichkeit der Bahn im ausgehenden 19. Jahrhundert beklagt, ist ein gewisser Jonathan Harker, seines Zeichens Immobilienmakler auf dem Weg nach Rumänien, nach Transsylvanien, zum Schloss des Grafen Dracula.

Würde ein Schriftsteller von heute die berühmteste Vampirgeschichte der Weltliteratur mit solchen trockenen Notizen zu Verspätungen im Bahnverkehr beginnen lassen, anstatt gleich in den ersten Sätzen ein düsteres Schloss aus einem geisterhaft vom Vollmond beschienenen Winterwald heraussteigen zu lassen oder zumindest eine fauchende Dampflok wie ein feuerspeiendes Höllentier ein finsteres Gebirge erklimmen lassen? Wahrscheinlich eher nicht.

Doch der der Ton, den Bram Stoker bereits auf den ersten Seiten seines bekanntesten Buches Dracula anschlägt, hat tatsächlich Methode – denn die (menschlichen) Protagonisten seines 1897 veröffentlichten Romans bedienen sich bei ihrem Kampf gegen den untoten Grafen allerlei Technik auf der Höhe ihrer Zeit: So ist Jonathan Harker – solange möglich – mit der Bahn unterwegs und bedient sich bei seinen Aufzeichnungen der Kurzschrift; Dr. Seward und Van Helsing kommunizieren per Telegramm und zeichnen sogar Sprachnachrichten und Tagebuchnotizen per Phonograph auf. Bei der Fahndung  nach dem in London untergetauchten Vampir helfen Zeitungsberichte über seltsame Vorkommnisse und letztendlich hilft Lloyd’s Register of Shipping, das Schiff zu verfolgen, auf dem der Graf vor seinen Häschern wieder in Richtung Trassylvanien flieht …

Insofern ist Dracula eine Geschichte über den Sieg von Technik und Wissenschaft über den Horror, der aus dem längst überwundenen Mittelalter auf untote Weise überlebt hat, eine Erzählung von der Überlegenheit der Empirie über die Vampirie. Unterstützt wird dies durch die gewählte Form, denn es handelt sich bei diesem Buch um eine Dokumentationsfiktion (heute würde man wohl eher „Mockumentary“ sagen): Der Roman besteht ausschließlich aus aneinandergereihten Auszügen aus Tagebüchern und Sprachnotizen, Zeitungsartikeln, Telegrammen und Briefen.

Für die Zeitgenossen hat sich das sicher ungeheuer modern gelesen. Aus heutiger Sicht ist die dort aufgefahrene Technik aber gerade zum Sinnbild der Nostalgie geworden: Dampflokomotiven, Telegramme, Phonographen, gedruckte Zeitungen und Dampfschiffe – eigentlich schon die komplette Ausstattung für eine Steampunk-Geschichte.

Inktober 2018 – Schluss mit Ford Model T

Auch in diesem Jahr wollte ich eigentlich beim Inktober mitmachen – aber schon nach ein paar Tagen war klar, in diesem Jahr klappt es nicht. Ich hakte die Zeichenaktion im Kopf damit für diesmal ab – jedenfalls fast. Denn dann stolperte ich kurz vor Ende Oktober (pardon: Inktober) in einem Technikgeschichten-Buch über das folgende Foto, das mich sofort ansprach, weil es ganz offensichtlich authentisch aus den 20er oder 30er Jahren stammt, aber irgendwie wie ein Cartoon wirkt. 

Grandpa's first car, Model T coupe,with artillery wheels Edward a O'D

Es zeigt ein Ford Model T Coupé. Das bedeutet, dass die auf dem Bild gezeigte Person nicht auf einen Rücksitz gezwängt sitzt, sondern dass es der Fahrer selbst ist, der hier lässig seinen Ellenbogen aus dem Fenster hängt. Dabei handelt es sich übrigens um den Großvater jener Person mit dem Aliasnamen Jnarrin, der dieses Bild bei Wikimedia hochgeladen und freundlicherweise unter eine Creative-Commons-Lizenz gestellt hat. Danke dafür!

Blech statt Speichen

Ungewöhnlich am Auto auf dem Foto sind die Felgen aus Blech, dem Schatten nach zu urteilen leicht trichterförmig getrieben oder gepresst. Das Standard-T-Modell hatte hingegen meist Räder mit zwölf dickeren Speichen, die auch Artillery Wheels genannt werden, weil sie ursprünglich für Kanonenlafetten entwickelt wurden. Bei späteren T-Modellen gab es dann auch Drahtspeichenräder.

Möglicherweise waren es die sehr flächigen Räder und dadurch sehr prägnanten Kreisformen auf dem Foto, die mich auf die Idee brachten, dann doch noch eine erste und gleichzeitig letzte Zeichnung zum Inktober 2018 zu machen. Passenderweise war es inzwischen der 31. Oktober, der in Niedersachsen neuerdings Feiertag ist, ich hatte also Zeit, und so entstand mein Symbolbild für den gescheiterten Inktober.

Ja, das gezeigte Auto ist kein ganz echtes T-Modell und nur inspiriert durch das Foto, keine Kopie. Schon die ersten Skizzen ergaben, dass ich die Form des Autos etwas verändern musste, um die zentrale Idee umzusetzen und ein offenbar  defektes Auto auf den „InktOber“-Schriftzug aufzubocken, wobei das Hinterrad das große „O“ bildet. Vor allem wanderte das Hinterrad ein Stück nach vorne und ich habe mir einen Kofferaum mit Ersatzrad drauf ausgedacht, der hoffentlich den Eindruck eines prototypischen Oldtimers verstärkt.

Wenn ich etwas technisches aus vergangenen Zeiten zeichne, dann wächst währenddessen unweigerlich mein weitergehendes Interesse am Gegenstand, und so war es auch beim Ford Model T. Klar, viele wissen, dass es das erste in großer Serie produzierte Auto war, dass man es in jeder Farbe haben konnte, Hauptsache schwarz, und dass das Vehikel auf den Spitznamen „Tin Lizzy“ („Blechliesel“) hörte. Doch beim Festlesen im Internet stieß ich noch auf ein paar Aspekte, die mir tatsächlich neu waren – und überraschend.

Nachhaltiges Massenprodukt

So war die Konstruktion mit Bedacht so einfach, aber robust ausgeführt, dass sich das Model T nicht nur beliebig modifizieren, sondern auch ohne Spezialwerkzeuge einfach reparieren ließ, mit Ersatzteilen, die der gewöhnliche Eisenwarenhandel in den USA auf Lager hatte oder zumindest bestellen konnte. Technisch war das über 19 Jahre gefertigte Auto zwar schnell überholt, aber durchaus auf nachhaltige Nutzung getrimmt – davon könnten sich heutzutage die Autobauer mal eine Scheibe abschneiden. Trotz seines niedrigen Preises – 1914 wurde der auf 370 Dollar gesenkt, was in heutiger Kaufkraft umgerechnet etwa 8000 Euro entspricht, für einen Neuwagen(!) – war das Auto kein Billigprodukt mit eingebauter Obsoleszenz, dem man beim Wegrosten zuschauen konnte. Von den 15 Millionen Exemplaren, die allein in den USA gebaut wurden, soll angeblich noch rund ein Prozent existieren – das wären immerhin 150.000 Stück, die allesamt über 90 Jahre alt sind.

Allerdings könnte man so eine Antiquität mit dem Autofahrerwissen von heute kaum mehr einfach anwerfen und losfahren – und selbst das Praktische Autobuch von 1959 wäre nur von sehr begrenztem Nutzen. Zwar hatte die Standard-Tin-Lizzy wie heutige Autos drei Pedale, die dienten aber für Kupplung, Rückwärtsgang und Fußbremse. Gas gab man mit einem Hebel am Lenkrad, zusätzlich war noch ein Handbremshebel vorhanden. Beim Anlassen musste man nicht nur mit einer Handkurbel und einer manuell umzuschaltenden Zündung hantieren, sondern auch an einem Draht als Choke ziehen – die Prozedur gibt es etwa im Filmklassiker „Jenseits von Eden“ mit James Dean nach dem Roman von John Steinbeck zu sehen.

Das Auto als Plattform

Beim Fahren einer Tin Lizzy musste man noch viel mehr beachten – so gab es spezielle Zusatzbremsen für alle, die häufiger lange Berge runterfahren mussten; auf dem Weg nach oben hingegen konnten die Pleuellager trockenlaufen und der Motor Schaden nehmen, weil es keine Ölpumpe gab, sondern nur eine Schleuderschmierung. Eine Benzinpumpe war übrigens auch nicht vorhanden, der Sprit gelangte rein durch das Gefälle vom Tank in den Motor.

Seine sprichwörtliche Robustheit kam eben auch dadurch zustande, weil das Fahrzeug denkbar einfach konstruiert und eine dankbare Plattform für Zubehör-Lieferanten und Bastler war – oder wie man heute sagen würde: für Tuner und Maker. Über Hardware-Nachrüstungen scheint man in der Ford-T-Ära nicht diskutiert zu haben – sie wurden gemacht. Auf Basis der Tin Lizzy entstanden nicht nur diverse Karosserie-Varianten, sondern auch LKWs, ein Traktor und sogar ein Panzer. Und auch den heute trendigen Upcycling-Gedanken nahm Ford vorweg: Seinen Zulieferern machte die Firma genaue Vorgaben, wie groß die Holzkisten sein mussten, in denen diese ihre Bauteile lieferten. Die Kisten wurden zerlegt und von Ford ebenfalls verwendet – als Teile für das Modell T.

Klassiker in Not – der Utah Teapot

Die Friesland Porzellanfabrik in Varel hat gestern angekündigt, zu Ende März 2019 nach 65 Jahren dichtzumachen. Das ist natürlich traurig – nicht nur, weil das Unternehmen seine Waren ausschließlich hierzulande produziert und dadurch viele Arbeitsplätze verloren gehen. Sondern auch, weil die Firma seit Jahrzehnten einen weltberühmten Star produziert, den paradoxerweise aber kaum jemand in der Porzellanabteilung suchen würde: den Utah Teapot.

(Bild: Friesland Porzellan)

Diese Teekanne kennen viele nämlich nicht aus der realen Welt, sondern aus dem virtuellen 3D-Raum. 1975 benötigte der Computergrafikforscher Martin Newell von der University of Utah einen mathematisch einfach zu beschreibenden, aber attraktiven Gegenstand und modellierte die Teekanne seiner Frau Sandra in 3D nach. Die Kanne wiederum war zwar in den USA gekauft worden, stammte aber ursprünglich aus Deutschland, eben aus jener Friesland Porzellanfabrik, welche die Kanne zwischen 1954 und 1991 unter dem Markennamen „Melitta“ herstellte. Produziert wird sie bis heute, in drei verschiedenen Größen, und inzwischen unter der Bezeichnung Utah Teapot.

Zwischendrin hieß sie auch mal schlicht „Haushaltsteekanne“. Denn in Varel hatte man lange Zeit gar keine Ahnung, welche Karriere der virtuelle Zwilling mittlerweile hingelegt hatte, wie die Kollegen von Radio Bremen bei einem Besuch in Varel im Mai erfuhren. Unbemerkt von der Porzellanfabrik mauserte sich die Daten-Version des Utah Teapot bald nach ihrer Modellierung durch Newell zu einem Standardobjekt in der frühen 3D-Computergrafik. Später, als ihre relativ schlichte Form für modernere Hardware und Render-Algorithmen keine Herausforderung mehr darstellte, hatte sich ihre typische Form bereits so im kollektiven Nerd-Gedächtnis eingebrannt, dass sie zum klassischen Meme wurde. Grafiker und Programmierer spendierten dem Teapot gerne Cameo-Auftritte in Animationsfilmen wie Toy Story oder auch in 3D-Software bis hin zum Windows-Bildschirmschoner.

Der „originale“ 3D-Utah-Teapot ist allerdings etwas anders geformt als das „echte“ Original von Friesland. Angeblich zeichnete Newell direkt am Teetisch eine Skizze der Kanne auf Papier und baute sie auf Grundlage seiner Zeichnung in der Uni in 3D nach.

Wer selbst noch einen realen, originalen Utah Teapot sein eigen nennen möchte, muss sich wohl leider sputen, denn wenn die Friesland Porzellanfabrik ihren Betrieb im kommenden Jahr einstellt, wird es irgendwann keine dieser Klassiker mehr zu kaufen geben. Aber vielleicht ergibt es ja so eine Art Crowdfunding, wenn jetzt noch genügend Leute ihrer Teekannensammlung dieses besondere Stück hinzufügen … Wir haben jedenfalls gerade eine bestellt.

Allegorien auf die Zukunft von gestern

Das Göteborger Kunstmuseum ist ein leicht wuchtig geratenes Gebäude aus den 20er Jahren, mit reichlich Treppenstufen davor, die zwischen den mächtigen Säulen und unter den Rundbögen der Fassade irgendwie in einem zugigen Nichts enden. Hat man sich aber im Inneren geduldig ganz nach oben gearbeitet, findet man dort die sogenannte Fürstenberg-Galerie. Diese erhielt ihren Namen nach dem Kunstmäzen Pontus Fürstenberg (1827–1902), der besonders die skandinavischen Künstler kurz vor der Jahrhundertwende wie Carl Larsson, Ernst Josephson und Anders Zorn förderte und ihre Werke kaufte.

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Die Räume dieser Galerie – in denen man unter anderem Bilder der ebengenannten Maler findet – wirken, als wären sie älter als das Gebäude selbst, das sie beherbergt. Die Innenausstattung mit farbigen Wänden, Stuck an der Decke, Eichenparkett, Teppichen und historisierenden dunklen Holzmöbeln sieht so gar nicht nach der Zeit des Nordischen Klassizismus aus, in dessen Geist das Kunstmuseum gebaut wurde. Vermutlich hat man in der Fürstenberg-Galerie die Szenerie älterer Räumlichkeiten nachgebaut, mit allen Dekorationselementen.

Diese Dekoration ist in der Tat ungewöhnlich: Auf den Stuckfriesen, üben denen die Wände in einer großzügigen Hohlkehle in die Decke übergehen, tummeln sich sechs allegorische Paare lebensgroßer Akte. Und während man gewohnt ist, dass solche Plastiken irgendwelche biblischen Tugenden oder Laster oder sonstige philosophische Konzepte verkörpern, hat dieses Dutzend Nackte viel handfesteres zu kommunizieren – moderne Technik.

Telefon

Das Telefon. Offensichtlich noch mit schlechter Tonqualität, die es erforderte, die Ohren scharf zu spitzen.

Kamera

Die Fotografie. Links macht sich das Modell hübsch, rechts nimmt die Fotografin den Deckel vom Objektiv ab, um die Belichtung zu starten.

Magnetismus

Das ist schon schwieriger. Dargestellt wird der Magnetismus, zu erkennen am Hufeisenmagnet. Die etwas weggetreten wirkende Dame links spielt vielleicht auf Franz Anton Mesmer an, der im 18. Jahrhundert Leuten Magneten aufgelegt haben soll, um sie zu hypnotisieren.

Dampf

Der Kessel in der Mitte macht es klar: Hier geht es um Dampf, damals das Mittel der Wahl zur Energieerzeugung. Auch wenn die beiden flankierenden Figuren eher benebelt wirken – oder wie kurz davor, sich wegen der Hitze von der höchsten Bank in der Sauna herunterzurollen.

Elektrizitaet

Die Elektrizität. Die beiden Figuren links und rechts holen sich Schläge an der Elektrisiermaschine in der Mitte. Das Medaillon ist leider auf dem Bild nur schlecht zu erkennen, aber die beiden hellen Punkte und der schwarze Fleck drumherum sind eine Katze auf der Schulter einer Dame – und ein mit Bernstein geriebenes Katzenfell war eines der frühen bekannten Beispiele für elektrostatische Aufladung.

Dynamit

Das ist wirklich schwer, ich musste auch erst auf den Erklärtext schauen: Diese Gruppe stellt das Dynamit dar – es erschreckt durch den Knall (wie man bei der Figur im Medaillon sieht) und ist in der Lage, Felsen zu spalten.

Die Figuren wurden samt und sonders vom wenig bekannten Bildhauer Per Hasselberg geschaffen. Bei den gemalten Medaillons waren verschiedene Künstler am Werk: Das Telefon-Bild schuf zum Beispiel Georg Pauli, der später einer der ersten Kubisten Schwedens wurde; den Dynamit-Schrecken pinselte Ernst Josephson, die elektrische Katze mit ihrer Besitzerin malte Carl Larsson.

Die gute böse Tante Ju

Am vergangenen Samstag ist die letzte flugfähige und in Deutschland zugelassene Maschine des Typs Junkers Ju 52/3m von der Kulturbehörde in Hamburg als „bewegliches Denkmal“ unter Schutz gestellt worden. Ein Fest für viele Technik-Nostalgiker. Und ich muss zugeben: Auch ich laufe zum nächsten Fenster und versuche, den silber-schwarzen Wellblechvogel zu erspähen, sobald ich das unverwechselbare Brüllen seiner drei Pratt&Whitney-Wasp-Sternmotoren höre.

Ju2014

Doch ein gewisses Unbehangen ist immer dabei, als werfe das fliegende Museumsstück einen langen kalten Schatten auf die Erde. Dabei ist das Image der „Tante Ju“ in Deutschland überwältigend positiv. Es beruht auf einer – einseitigen – kollektiven Erinnerung an die Maschine als sagenhaft zuverlässiges Verkehrsflugzeug, das sich mit einer kurzen (auch behelfsmäßigen) Start- und Landebahn begnügte und auch aus schwierigen Situationen eigentlich immer wieder rauskam. Die Ju 52 ist offenbar immer noch ein derart ein starker Sympathieträger, dass die Lufthansa in den 90er Jahren ein altes Plakatmotiv mit ihr als Werbung auf Postkarten druckte, als nostalgische Reminiszenz an eine gute alte Zeit:

AuchImWinter

Gute alte Zeit? Die ersten Exemplare der Ju 52 wurden zwar schon 1932 ausgeliefert, aber ihre große Zeit erlebte die „Tante Ju“ im nationalsozialistischen Deutschland – als Passagier- oder Frachtflugzeug im zivilen Einsatz, aber auch als Militärmaschine. Mehr noch: Lange bevor es den Begriff des „Dual-Use“ überhaupt gab (heute bezeichnet er die prinzipielle Verwendbarkeit einer Sache sowohl für zivile als auch militärische Zwecke), war die Ju 52 gezielt für genau diesen Doppelnutzen entworfen worden: Das Reichswehrministerium nahm großen Einfluss auf die Entwicklung der Maschine, mit der Folge, dass am Ende jede jemals gebaute Ju 52 ohne Umbauten auch direkt im Krieg eingesetzt werden konnte. So gab es eine Ladeluke an der Rumpfoberseite, die den nachträglichen Einbau eines Maschinengewehrstandes ermöglichte. Zwischen den beiden Hälften des geteilten Fahrgestells war genügend Platz, um Bomben aufzuhängen. Die wurden zum Beispiel im spanischen Bürgerkrieg von den Ju-52-Maschinen der deutschen Legion Condor auf die baskische Stadt Guernica abgeworfen.

Wenn jetzt die letzte deutsche Ju 52 offiziell zum fliegenden Denkmal gekürt wird, sollte auch aktiv an ihre dunkle Seite erinnert werden. Sonst geht man vor lauter Techniknostalgie der Mär einer guten alten Zeit am Ende noch auf den Leim.

Wie der Fortschritt Metaphern umpolt

Mein Büro-Mitbewohner kennt sehr viele Songs. Er beherrscht auch die Kunst, mir mit einer einzelnen gesummten Phrase oder gesungenen Zeile für den Rest des Tages einen Ohrwurm zu bescheren. (Ja, ich kenne offenbar ebenfalls viele Songs.)

Neulich reichten drei Worte von ihm – nothing ever happens – um mich 25 Jahre zurückzukatapultieren. Ende der 80er hörte ich viel Radio, fast ausschließlich SWF3, einen Sender, bei dem Leute wie Anke Engelke, Frank Plasberg und Claus Kleber als völlig unbekannte JungmoderatorInnen für den launigen bis albernen Ton zuständig waren.

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Je später der Radio-Abend wurde, desto mehr wuchs bei SWF3 aber auch die Chance, dass ich erfuhr, wie der Song und wie die Band hieß, die gerade zu hören waren – die Nummern wurden damals meist ausgespielt und dann sagte der Mensch am Mikrofon: „Das war Steely Dan mit dem Titel Reelin‘ in the years„. Zum Beispiel. Soviel Zeit war da.

Auf der Suche nach dem einen oder anderen Song, der selten über den Sender ging, mir aber im Kopf hängengebliegen war, legte ich mich ein wenig auf die Lauer. Das Radio – ein altes Ding, zwar schon mit Transistoren, aber noch in 60er-Jahre-Nussbaum-Optik – stand direkt auf meinem Schreibtisch, an dem ich Hausaufgaben machte und zeichnete. Stift und Papier waren also immer greifbar, und nach ein paar Wochen Geduld hatte ich dann den Titel und Interpret des gesuchten Songs schwarz auf weiß. Surfin‘ Bird von den Trashmen etwa oder später No Rain von Blind Melon.

Und eben: Nothing ever happens von Del Amitri, mein Ohrwurm vom Anfang. Dieser Song ist aus dem Jahr 1989 und manchmal höre ich ihn immer noch gerne, wenn es dunkel ist. Dass ich hier darüber schreibe, liegt aber am Text. Er widmet sich der nächtlichen Einsamkeit der Menschen in der modernen Welt und benutzt dafür als Metapher die sinnlos weiterlaufende Maschinerie der Alltagstechnik: Ampeln schalten auf rot, auch wenn da niemand ist, der fahren will. Überwachungskameras in Kaufhäusern zeigen täglich den selben (todlangweiligen) Film. Einfältige Leute schlafen bewusstlos wie betäubte weiße Labormäuse. (Und heute Nacht werden alle einsam sein, und morgen auch.)

Soweit, so kalt, so melancholisch. Doch auch: Sekretärinnen schalten Schreibmaschinen aus, bevor sie zum Mantel greifen und das Büro verlassen (immerhin sind die Schreibmaschinen schon elektrisch). Leute beschweren sich über Wiederholungen im Fernsehen, stimmt, das hat manche Menschen mal sehr bewegt. Telefone tauschen Klicks aus, analog zum alten Impulswahlverfahren. Computerterminals melden Kursschwankungen bei Kupfer und Zinn – handfestes Material im Vergleich zu Optionen, Zertifikaten und geschlossenen Imobilienfonds von heute. Und im Refrain: Die Nadel kehrt zum Anfang des Songs zurück und alle singen wieder mit.

Das ist heute nicht mehr kalt, modern und technisch, sondern nostalgisch. Warm. Etwas angestaubt. Gerade mal 25 Jahre her. Wie das Nußbaum-Radio auf meinem Schreibtisch, die energieverschwendende 40-Watt-Glühbirne mit dem warmen Licht in der Architektenlampe. Kein Computer. Kein Handy. Musik im Kopf. Ein Stift und ein Zettel. Zeit.

Spritztour zurück ins Jahr 1959

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Ich habe neulich „Das praktische Autobuch“ (Baujahr 1959) geschenkt bekommen. Darüber habe ich mich sehr gefreut, denn ich lese gerne Erklärungen über technische Dinge, insbesondere, wenn sie allgemein verständlich geschrieben sind. Prompt habe ich beim flüchtigen Durchblättern und Überfliegen einiger Seiten des praktischen Autobuchs wieder was gelernt: warum Autos mit Zweitaktmotoren eine Freilaufkupplung brauchen.

Bei Zweitaktern wird das Schmieröl dem Kraftstoff beigemischt. Würde man so einen Motor wie einen Viertakter ohne Sprit weiterlaufen lassen, sobald man Gas wegnimmt, der Wagen aber noch viel Fahrt drauf hat, liefe der Zweitaktmotor in diesem Moment ungeschmiert. Mit einem Freilauf kann der Motor stattdessen im Leerlauf weitertuckern und bekommt durchgehend Sprit und Schmierung. Die praktische Konsequenz davon: Zweitakt-Autos haben keine Motorbremse. Das in westdeutschen Fahrschulen geübte Runterschalten vor der Kurve bleibt in also vollkommen wirkungslos, falls man mal einen Trabant fahren sollte…

Das praktische Autobuch macht mir aber auch mit seiner grafischen Gestaltung viel Freude. Die eingestreuten Illustrationen sind nicht nur elegant im Strich; charmant finde ich auch, dass die Gestalter des Buches zum Beispiel den Abschnitt über „Schmieröle“ mit der Miniatur einer Laborszene illustrierten:

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Genauso stelle ich mir die fünfziger Jahre vor.

Neben den Strichzeichnungen auf den normalen Seiten sind auch noch Schwarzweiß-Foto-Tafeln und einige wenige Farbtafeln eingebunden. Die schönste ist diese hier:

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Sie zeigt die seinerzeit verbreiteten Bauarten anhand von drei gängigen Automodellen: Einem Opel Kapitän, einem VW Käfer sowie einem DKW (wahrscheinlich einem F93).

Was auffällt: wie wenig auf den Schemazeichnungen gelb markiert ist, also zur Elektrik gehört. Autos waren damals eher eine mechanische Angelegenheit, keine hochintegrierten mobilen Mechatroniksysteme wie heute. Unter der Haube hat sich viel getan. Darüber sieht man leicht hinweg, weil Autofahren im Prinzip heute noch ganz ähnlich funktioniert wie vor 55 Jahren: Gas rechts, Bremse in der Mitte, Kupplung links; ein Lenkrad, vier Räder, Blinkerhebel, Scheibenwischer, Fernlicht, Außen- und Innenspiegel … alles klar.

Aber in den Details beschreibt das praktische Autobuch eine fremde Welt. So gelten vollsynchronisierte Getriebe noch als etwas sehr neumodisches – zwischen den Zeilen kann man deutlich lesen, dass echte Könner auch mit einem rustikalen Schubradgetriebe klarkommen, weil sie gelernt haben, zwischen Aus- und Einkuppeln gefühlvoll Zwischengas zu geben. Auch warnt das Buch eindringlich davor, mit getretenem Kupplungspedal, aber eingelegtem ersten Gang den Motor zu starten – Kupplungen würden schließlich zum „Kleben“ neigen, der Anlasser hätte dann viel Kraft aufzubringen, die Batterie würde strapaziert und eine neue koste soviel wie zwei Paar gute Schuhe. Die Handhabung des Choke wird ausführlich erklärt, bei Fehlern droht der Motor „abzusaufen“ – gehört habe ich davon zwar schon mal, passiert ist es mir noch nie.

Kein Wunder: Mein Führerschein stammt aus dem Jahr 1990, ist also gut 30 Jahre jünger als das praktische Autobuch. Es hätte mir damals nicht viel helfen können, denn zwischen den Vehikeln, die es beschreibt, und dem elterlichen Audi 100 C2 lagen schon etliche Fortschritte: Einspritzer, Zentralverriegelung, Klimaanlage … Und heute, nochmal bald 25 Jahre später (in denen ich zu keiner Zeit ein eigenes Auto besessen habe) stehe ich vor manchem geliehenem Wagen so ratlos da, wie jemand, der Ende der Fünfziger aus dem praktischen Autobuch fahren gelernt haben mag: Wo ist das Zündschloss? (Man muss die Fernbedienung, über die man die Türen öffnet, in einen Schlitz im Armaturenbrett stecken und dann auf einen Startknopf drücken.) Wo ist die Handbremse? (Man löst sie per Knopfdruck, ihr Zustand wird über eine Kontrolleuchte angezeigt.) Fahren muss man allerdings immer noch selbst. Ob die Verfasser des praktischen Autobuchs das vor über 50 Jahren gedacht haben?

Gibt es die "Santa Maria" wirklich noch?

Wer sich für Seefahrtgeschichte interessiert, dessen Fantasie wird durch die folgende Meldung mächtig angeregt: Angeblich hat der US-amerikanische Taucher und Historiker Barry Clifford ein schon seit 2003 vor Haiti gefundenes Schiffswrack jetzt als Überrest der Santa Maria identifiziert – des Flaggschiffes von Christoph Columbus auf seiner ersten Fahrt über den Antlantik in Richtung Westen, das dadurch zum wahrscheinlich berühmtesten Schiff aller Zeiten wurde. Am 24. Dezember 1492 lief es allerdings auf eine Sandbank vor der Insel Hispaniola, rollte aufgrund seiner Rumpfform bei ablaufendem Wasser auf die Seite, schlug leck und wurde am folgenden Tag aufgegeben.

Den Schlüssel zur angeblichen Identifizierung habe die Position des Wracks geliefert, schreibt die Süddeutsche Zeitung – in der Nähe seien 1977 bereits die Reste des von Columbus‘ Mannschaft errichteten Forts La Navidad gefunden worden. Auch die Größe soll hinkommen, zudem habe man Steine aus dem Ballast des Schiffes entdeckt, die „mit hoher Sicherheit aus Spanien stammen“ – ganz wie die Santa Maria.

Schaut man sich das Video bei CNN an, beschleicht einen allerdings der Eindruck, dass vom berühmtesten Schiff aller Zeiten auch gar nicht viel mehr übrig ist als dieser Haufen Ballaststeine. Das wundert nicht: Nach über 500 Jahren in seichtem tropischen Wasser existiert von einem reinen Holzschiff garantiert nur noch das, was tief im Sand gesteckt hat – ein Stückchen Kiel, ein paar Bodenstücke von Spanten, die eine oder andere Planke und eben der Steinballast.
Verwunderlicher fand ich eher, mit welchem Bild die Süddeutsche Zeitung ihren Artikel illustriert. Denn das zeigt ganz zweifelsfrei ein Schiff aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, noch dazu eines niederländischer Bauart:

Ich gebe ja zu, dass ich zuerst dachte, dass das ein typischer Fall von historischer Großzügigkeit sei, nach dem Motto: „Segelschiff ist Segelschiff, und weil keiner weiß, wie die Santa Maria ausgesehen hat, kann man eben irgendein Bild nehmen – Hauptsache drei Masten.“

Allerdings lautet die Bildunterschrift: „Die Santa Maria auf einem Gemälde von Andries van Eertvelt im National Maritime Museum in Greenwich, London“.

Das machte mich dann doch stutzig und ich schaute mal auf der Webseite des National Maritime Museum in Greenwich nach, was denn die Kolleginnen und Kollegen bei der SZ bewogen haben mochte, ausgerechnet diesem Schiff die Santa Maria zu sehen.

Die Erklärung ist simpel: Das Bild aus dem Jahr 1628 heißt schlicht The ‚Santa Maria‘ at Anchor und sollte als frühes Historienbild eine damals schon rund 130 Jahre zurückliegende Szene zeigen. Der Maler Andries van Eertvelt dachte sich offenbar: „Segelschiff ist Segelschiff, und weil keiner weiß, wie die Santa Maria ausgesehen hat, kann ich eben irgendein Schiff malen – Hauptsache drei Masten.“ Also pinselte er zwar ein südeuropäisches Meer und eine Küste, wie er sie auf seiner Reise nach Italien kennengelernt hatte, da hinein aber ein Schiff, dass er täglich auf der Nordsee sehen konnte, nach dem Stand der Technik des 17. Jahrhunderts.
In der abendländischen Malerei haben solche Zeitverschiebungen eine lange Tradition, deshalb spielen sich so viele biblische Geschichten in europäischen mittelalterlichen Städten ab, bevölkert von Heiligen, Jüngern und Philistern, die nach dem letzten Schrei der Spätgotik gekleidet sind … Aus dem ausgehenden Mittelalter kannte ich das. Dass es sowas noch im goldenen Zeitalter der niederländischen Barockmalerei gegeben hat, war mir neu.

Nachtrag am 14. Mai 2014: Inzwischen berichtet die Süddeutsche Zeitung schon über Zweifel an der Identität des Schiffes.

Kein Dampf ohne Rauch

Wo eine Dampfmaschine Dienst tut, ist Qualm nicht weit. So sieht es jedenfalls auf Fotos aus jener Zeit aus, als Dampfmaschinen noch die einzige ernstzunehmende Kraftquelle für Großtechnik wie Lokomotiven, Schiffe oder Fabriken waren. Hier zwei Beispiele aus der Commons-Sammlung von Flickr: Oben qualmen im Jahr 1915 der australische Truppentransporter Warilda und ein Schlepper um die Wette, unten läuft die Mauretania 1907 zu ihrer Jungfernfahrt aus.

TransporterMitSchlepper

Mauretania

Auch heute bekommt man gelegentlich noch die Gelegenheit, eine Dampfmaschine aus nächster Nähe in Aktion zu erleben – zum Beispiel im Hamburger Museumshafen Oevelgönne, an Bord des Schleppers Tiger. Die Tiger ist mit ihrem Baujahr 1910 nur wenige Jahre jünger als die Mauretania und ihr Fünf-Kubikmeter-Kessel wird nach wie vor mit Kohle geheizt.

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Eher durch Zufall gerieten wir heute vor genau vier Jahren an Bord der Tiger, an einem Tag, an dem die Wasseroberfläche der Elbe praktisch völlig unter Eisschollen verschwand und der Himmel grau verhangen war. An Deck wärmte der Glühwein, unter Deck das Kohlenfeuer unter dem Kessel. Es wurde eine unvergessliche Hafenrundfahrt, kreuz und quer zwischend den Containerriesen hindurch, im Schritttempo durch die schmalsten Lücken und dauernd vom Eis umgeben.

TigerWinterFern

An den Landungsbrücken gingen wir nach gut zwei Stunden von Bord und konnten dann das 17-Meter-Schiff auf dem gegenüberliegenden Elbufer davondampfen sehen (oben ganz links, klein und schwarz im Bild). Die Rauchfahne aus dem Schornstein wurde sicher durch die kalte Luft verstärkt (die Temperatur lag den ganzen Tag über knapp unter Null) und war ziemlich imposant. Im Vergleich mit den Bildern von vor hundert Jahren fällt aber auf, dass der Qualm aus der Ferne eher weiß als schwarz aussieht.

Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man Fotos von Dampfern auf der Elbe betrachtet, die im Sommer aufgenommen wurden: Oben wieder die Tiger, unten die Schaarhörn, deren Kessel ebenfalls noch mit Kohle befeuert wird.

TigerSommer

Schaarhoern

Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, was der Grund für den weißen Rauch aus den Schornsteinen der Museumsschiffe im 21. Jahrhundert ist. Allerdings verschleiert die Assoziation Dampfmaschine → Qualm die Tatsache, dass die Heizenergie theoretisch auf beliebige Art und Weise erzeugt werden könnte, je nachdem unter mehr oder weniger Produktion von Qualm. Würde man den Kessel beispielsweise elektrisch heizen, bräuchte man gar keinen Schornstein mehr, weil kein Rauch abzuführen wäre. Ok, ich gebe zu, das ist technisch eine blödsinnige Idee – als Gedankenspiel finden ich es aber interessant.

Tatsächlich werden sogar heute noch neue Dampfmaschinen gebaut, von der schweizerischen Dampflokomotiv- und Maschinenfabrik DLM in Winterthur. Die werden mit Leichtöl befeuert und von ihrem Hersteller mit dem Slogan modern steam beworben. Der nach diesem Prinzip umgerüstete Genfer-See-Dampfer Montreux fährt jetzt völlig ohne Qualm über dem Schornstein, aber dennoch mit Dampf:

Ein bisschen seltsam sieht das Bild für mich aber dann doch aus. Es zeigt einen Dampfer in flotter Fahrt, dem man aber die Dampfmaschine unter Deck gar nicht ansieht. Irgendwas fehlt. Am Ende ist es dann doch der Qualm, der das nostalgische Klischee komplettieren würde. Ich denke: Säße ich am Ufer des Genfer Sees und zeichnete die Montreux im Vorbeifahen, ich würde ihr eine dunkle Wolke über den Kamin setzen. Realismus hin oder her.

Utopie: Innerstädtischer Nahflugverkehr

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts tauchten die ersten Flugapparate am Himmel auf, Symbole einer neuen Zeit und ihrer Technik. Prompt machte sich in den Köpfen mancher Visionäre die Vorstellung breit, in der Stadt der Zukunft werde man sich nicht nur mit Hoch- oder Untergrundbahnen, zu Fuß und mit dem Auto fortbewegen, sondern ebenso selbstverständlich per Flugzeug durch die Häuserschluchten der Metropolen kreuzen. Eine solche Szene sieht man zum Beispiels in Fritz Langs Stummfilm Metropolis von 1925/26:

https://youtu.be/skY2eDN7CoE?t=18m16s

Es gab auch einige Architekten und Stadtplaner, die diese Nahverkehrsvision ernsthaft in die Tat umsetzen wollten. Der futuristische Architekt Antonio Sant’Elia zum Beispiel zeichnete eine Serie von Entwürfen für eine Citta Nuova, eine neuen Stadt. Deren zentraler Bahnhof sollte auf seinem Dach einem kompletten Flughafen Platz bieten:

Die Skizze oben zeigt die Zentralstation aus der Perspektive eines Pilots im Endanflug. Die Einflugschneise wäre parallel zu den Gleisen und Schnellstraßen im Vordergrund verlaufen. Im Bahnhofsgebäude unter dem Rollfeld hätte man dann auf dem kurzen Fußweg das Verkehrsmittel wechseln können.

Sant’Elias Entwurf stammt von 1914, war für Mailand gedacht und wurde nie realisiert. Elf Jahre später (und nach Sant’Elias Tod) griff der amerikanische Architekt Frank Lloyd Wright die Idee wieder auf, als er sich 1925 Gedanken über ein neues Stadtzentrum von Los Angeles machte:

Auch diese Vision wurde nie umgesetzt.

Wenn man genau hinschaut (zum Vergrößern bitte klicken!), erkennt man auf Wrights Entwurf über dem Stadtzentrum nicht nur normale Flugzeuge, sondern auch Luftschiffe. Und für deren Abfertigung in Innenstädten wurden tatsächlich vereinzelt Vorbereitungen getroffen. Ich habe es ja lange für ein Gerücht gehalten, aber wie die New York Times schreibt, gab es tatsächlich den Plan, den Fuß der Antenne auf dem Dach des Empire State Building in New York als gigantischen Poller fürs Vertäuen von Zeppelinen zu benutzen. Die Deutschen, die New York mit ihren Luftschiffen LZ 127 (Graf Zeppelin) und LZ 129 (Hindenburg) anliefen, hielten das für eine Schnapsidee und steuerten lieber das Flugfeld im rund 100 Kilometer entfernten Lakehurst an. Die Amerikaner hingegen haben wohl den einen oder anderen praktischen Versuch tatsächlich gewagt: Laut der New York Times machte im September 1931 ein Luftschiff behelfsmäßig für drei Minuten am Gebäude fest, bei satter Windstärke acht. Zwei Wochen später seilte ein Prallluftschiff (Blimp) einen Packen Zeitungen auf dem Dach des Empire State Building ab. Das war’s dann auch. Deshalb sind alle Bilder von vertäuten Zeppelinen an der Spitze des Wolkenkratzers Fotomontagen:

Oder sie stammen aus dem Computer wie diese Szene aus dem Spielfilm Sky Captain and the World of Tomorrow:

Es gab allerdings mal jemanden, der – zumindest für sich selbst – die Vision von individuellen Stadtbummel durch die Luft in die Tat umgesetzt hat: Der brasilianische Ingenieur und Lebemann Alberto Santos-Dumont baute während seiner Jahre in Paris eine Reihe von Luftschiffen und benutzte seine nur zehn Meter lange Konstruktion N°9 angeblich, um Freunde in der Stadt zu besuchen oder ins Restaurant zu fliegen. Es heißt, er sei auf der Avenue Champs Èlysées oder in der Rue Washington gelandet und habe sein Luftschiff bei Zwischenstopps unterwegs einfach am nächsten Baum festgebunden. Das Luftschiff N°9, auch Baladeuse (Wandererin) genannt, hatte einen 3-PS-Motor und erreichte eine Geschwindigkeit von rund 25 Stundenkilometern – bei zu viel Gegenwind wird Santos-Dumont besser eine Droschke genommen haben.

Santos-Dumont ging es bei seinen Ausflügen sicher weniger um Bequemlichkeit und echte Zeitersparnis, dafür umso mehr um den Effekt. Er wird mit seinem Luftschiff ähnlich viel Aufsehen erregt haben wie im 19. Jahrhundert Fürst Pückler-Muskau, als er vor dem Berliner Café Kranzler seine Kutsche mit vier vorgespannten Hirschen parkte. Als Santos-Dumont später von den Luftschiffen zu Motorflugzeugen wechselte, war er zwar nicht der erste, der so ein Gerät in die Luft brachte, aber der erste, der seine Flüge als öffentliche Veranstaltungen zelebrierte. In die Luftfahrtgeschichte ging er als erfolgreichster Flugpionier seiner Ära ein, gemessen an den Preisen für Langstrecken- und Dauerrekorde, die er einheimste.

Um Publicity (oder schlicht: Reklame) ging es wahrscheinlich auch, als der Pilot Antonius Raab am 8. Juni 1923 morgens um acht mit seiner Maschine in Berlin Unter den Linden auf der Straße landete. Raab erzählte der Polizei, es sei eine Notlandung gewesen. Am nächsten Tag stand die Geschichte groß in den Zeitungen und der Hersteller des Flugzeugs, das Stahlwerk Mark, warb anschließend in Anzeigen ganz unverholen mit der glatten Landung der Maschine auf der Fahrbahn. Der vom Stahlwerk in Lizenz gebaute kleine Hochdecker Rieseler III/22 hätte sich somit zumindest theoretisch für den innerstädtischen Flugverkehr geeignet.


In den fünfziger und sechziger Jahren war dann der Hubschrauber serienreif und beflügelte die Idee des urbanen Nahverkehrs durch die Luft aufs neue. Zur Zeit ist im Historischen Museum in Hannover die Ausstellung Stadtbilder. Zerstörung und Aufbau zu sehen. Dort sieht man auf einer Projektskizze von Karl Cravatzo von etwa 1960 einen bananenförmigen Doppelrotor-Hubschrauber hoch über einer Startplattform schweben, die über die Bahnsteige des Hauptbahnhofs gebaut ist. Auch diese Plattform wurde nie errichtet. Hubschrauberverkehr gibt es aber dennoch über der Stadt: bei Fußballspielen, bei Großveranstaltungen, bei Polizeieinsätzen. Nicht zu vergessen: der Hubschrauberlandeplatz der Medizinischen Hochschule, der in ungefähr 200 Metern Luftlinie vor meinem Bürofenster liegt. Wenn von dort aus mal wieder der Rettungshubschrauber im Einsatz knapp über meinen Schreibtisch donnert, dann bin ich mir sicher: Von solchen Notfällen abgesehen ist innerstädtischer Nahflugverkehr keine gute Idee.