Wie der Fortschritt Metaphern umpolt

Mein Büro-Mitbewohner kennt sehr viele Songs. Er beherrscht auch die Kunst, mir mit einer einzelnen gesummten Phrase oder gesungenen Zeile für den Rest des Tages einen Ohrwurm zu bescheren. (Ja, ich kenne offenbar ebenfalls viele Songs.)

Neulich reichten drei Worte von ihm – nothing ever happens – um mich 25 Jahre zurückzukatapultieren. Ende der 80er hörte ich viel Radio, fast ausschließlich SWF3, einen Sender, bei dem Leute wie Anke Engelke, Frank Plasberg und Claus Kleber als völlig unbekannte JungmoderatorInnen für den launigen bis albernen Ton zuständig waren.

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Je später der Radio-Abend wurde, desto mehr wuchs bei SWF3 aber auch die Chance, dass ich erfuhr, wie der Song und wie die Band hieß, die gerade zu hören waren – die Nummern wurden damals meist ausgespielt und dann sagte der Mensch am Mikrofon: „Das war Steely Dan mit dem Titel Reelin‘ in the years„. Zum Beispiel. Soviel Zeit war da.

Auf der Suche nach dem einen oder anderen Song, der selten über den Sender ging, mir aber im Kopf hängengebliegen war, legte ich mich ein wenig auf die Lauer. Das Radio – ein altes Ding, zwar schon mit Transistoren, aber noch in 60er-Jahre-Nussbaum-Optik – stand direkt auf meinem Schreibtisch, an dem ich Hausaufgaben machte und zeichnete. Stift und Papier waren also immer greifbar, und nach ein paar Wochen Geduld hatte ich dann den Titel und Interpret des gesuchten Songs schwarz auf weiß. Surfin‘ Bird von den Trashmen etwa oder später No Rain von Blind Melon.

Und eben: Nothing ever happens von Del Amitri, mein Ohrwurm vom Anfang. Dieser Song ist aus dem Jahr 1989 und manchmal höre ich ihn immer noch gerne, wenn es dunkel ist. Dass ich hier darüber schreibe, liegt aber am Text. Er widmet sich der nächtlichen Einsamkeit der Menschen in der modernen Welt und benutzt dafür als Metapher die sinnlos weiterlaufende Maschinerie der Alltagstechnik: Ampeln schalten auf rot, auch wenn da niemand ist, der fahren will. Überwachungskameras in Kaufhäusern zeigen täglich den selben (todlangweiligen) Film. Einfältige Leute schlafen bewusstlos wie betäubte weiße Labormäuse. (Und heute Nacht werden alle einsam sein, und morgen auch.)

Soweit, so kalt, so melancholisch. Doch auch: Sekretärinnen schalten Schreibmaschinen aus, bevor sie zum Mantel greifen und das Büro verlassen (immerhin sind die Schreibmaschinen schon elektrisch). Leute beschweren sich über Wiederholungen im Fernsehen, stimmt, das hat manche Menschen mal sehr bewegt. Telefone tauschen Klicks aus, analog zum alten Impulswahlverfahren. Computerterminals melden Kursschwankungen bei Kupfer und Zinn – handfestes Material im Vergleich zu Optionen, Zertifikaten und geschlossenen Imobilienfonds von heute. Und im Refrain: Die Nadel kehrt zum Anfang des Songs zurück und alle singen wieder mit.

Das ist heute nicht mehr kalt, modern und technisch, sondern nostalgisch. Warm. Etwas angestaubt. Gerade mal 25 Jahre her. Wie das Nußbaum-Radio auf meinem Schreibtisch, die energieverschwendende 40-Watt-Glühbirne mit dem warmen Licht in der Architektenlampe. Kein Computer. Kein Handy. Musik im Kopf. Ein Stift und ein Zettel. Zeit.