Inktober 2018 – Schluss mit Ford Model T

Auch in diesem Jahr wollte ich eigentlich beim Inktober mitmachen – aber schon nach ein paar Tagen war klar, in diesem Jahr klappt es nicht. Ich hakte die Zeichenaktion im Kopf damit für diesmal ab – jedenfalls fast. Denn dann stolperte ich kurz vor Ende Oktober (pardon: Inktober) in einem Technikgeschichten-Buch über das folgende Foto, das mich sofort ansprach, weil es ganz offensichtlich authentisch aus den 20er oder 30er Jahren stammt, aber irgendwie wie ein Cartoon wirkt. 

Grandpa's first car, Model T coupe,with artillery wheels Edward a O'D

Es zeigt ein Ford Model T Coupé. Das bedeutet, dass die auf dem Bild gezeigte Person nicht auf einen Rücksitz gezwängt sitzt, sondern dass es der Fahrer selbst ist, der hier lässig seinen Ellenbogen aus dem Fenster hängt. Dabei handelt es sich übrigens um den Großvater jener Person mit dem Aliasnamen Jnarrin, der dieses Bild bei Wikimedia hochgeladen und freundlicherweise unter eine Creative-Commons-Lizenz gestellt hat. Danke dafür!

Blech statt Speichen

Ungewöhnlich am Auto auf dem Foto sind die Felgen aus Blech, dem Schatten nach zu urteilen leicht trichterförmig getrieben oder gepresst. Das Standard-T-Modell hatte hingegen meist Räder mit zwölf dickeren Speichen, die auch Artillery Wheels genannt werden, weil sie ursprünglich für Kanonenlafetten entwickelt wurden. Bei späteren T-Modellen gab es dann auch Drahtspeichenräder.

Möglicherweise waren es die sehr flächigen Räder und dadurch sehr prägnanten Kreisformen auf dem Foto, die mich auf die Idee brachten, dann doch noch eine erste und gleichzeitig letzte Zeichnung zum Inktober 2018 zu machen. Passenderweise war es inzwischen der 31. Oktober, der in Niedersachsen neuerdings Feiertag ist, ich hatte also Zeit, und so entstand mein Symbolbild für den gescheiterten Inktober.

Ja, das gezeigte Auto ist kein ganz echtes T-Modell und nur inspiriert durch das Foto, keine Kopie. Schon die ersten Skizzen ergaben, dass ich die Form des Autos etwas verändern musste, um die zentrale Idee umzusetzen und ein offenbar  defektes Auto auf den „InktOber“-Schriftzug aufzubocken, wobei das Hinterrad das große „O“ bildet. Vor allem wanderte das Hinterrad ein Stück nach vorne und ich habe mir einen Kofferaum mit Ersatzrad drauf ausgedacht, der hoffentlich den Eindruck eines prototypischen Oldtimers verstärkt.

Wenn ich etwas technisches aus vergangenen Zeiten zeichne, dann wächst währenddessen unweigerlich mein weitergehendes Interesse am Gegenstand, und so war es auch beim Ford Model T. Klar, viele wissen, dass es das erste in großer Serie produzierte Auto war, dass man es in jeder Farbe haben konnte, Hauptsache schwarz, und dass das Vehikel auf den Spitznamen „Tin Lizzy“ („Blechliesel“) hörte. Doch beim Festlesen im Internet stieß ich noch auf ein paar Aspekte, die mir tatsächlich neu waren – und überraschend.

Nachhaltiges Massenprodukt

So war die Konstruktion mit Bedacht so einfach, aber robust ausgeführt, dass sich das Model T nicht nur beliebig modifizieren, sondern auch ohne Spezialwerkzeuge einfach reparieren ließ, mit Ersatzteilen, die der gewöhnliche Eisenwarenhandel in den USA auf Lager hatte oder zumindest bestellen konnte. Technisch war das über 19 Jahre gefertigte Auto zwar schnell überholt, aber durchaus auf nachhaltige Nutzung getrimmt – davon könnten sich heutzutage die Autobauer mal eine Scheibe abschneiden. Trotz seines niedrigen Preises – 1914 wurde der auf 370 Dollar gesenkt, was in heutiger Kaufkraft umgerechnet etwa 8000 Euro entspricht, für einen Neuwagen(!) – war das Auto kein Billigprodukt mit eingebauter Obsoleszenz, dem man beim Wegrosten zuschauen konnte. Von den 15 Millionen Exemplaren, die allein in den USA gebaut wurden, soll angeblich noch rund ein Prozent existieren – das wären immerhin 150.000 Stück, die allesamt über 90 Jahre alt sind.

Allerdings könnte man so eine Antiquität mit dem Autofahrerwissen von heute kaum mehr einfach anwerfen und losfahren – und selbst das Praktische Autobuch von 1959 wäre nur von sehr begrenztem Nutzen. Zwar hatte die Standard-Tin-Lizzy wie heutige Autos drei Pedale, die dienten aber für Kupplung, Rückwärtsgang und Fußbremse. Gas gab man mit einem Hebel am Lenkrad, zusätzlich war noch ein Handbremshebel vorhanden. Beim Anlassen musste man nicht nur mit einer Handkurbel und einer manuell umzuschaltenden Zündung hantieren, sondern auch an einem Draht als Choke ziehen – die Prozedur gibt es etwa im Filmklassiker „Jenseits von Eden“ mit James Dean nach dem Roman von John Steinbeck zu sehen.

Das Auto als Plattform

Beim Fahren einer Tin Lizzy musste man noch viel mehr beachten – so gab es spezielle Zusatzbremsen für alle, die häufiger lange Berge runterfahren mussten; auf dem Weg nach oben hingegen konnten die Pleuellager trockenlaufen und der Motor Schaden nehmen, weil es keine Ölpumpe gab, sondern nur eine Schleuderschmierung. Eine Benzinpumpe war übrigens auch nicht vorhanden, der Sprit gelangte rein durch das Gefälle vom Tank in den Motor.

Seine sprichwörtliche Robustheit kam eben auch dadurch zustande, weil das Fahrzeug denkbar einfach konstruiert und eine dankbare Plattform für Zubehör-Lieferanten und Bastler war – oder wie man heute sagen würde: für Tuner und Maker. Über Hardware-Nachrüstungen scheint man in der Ford-T-Ära nicht diskutiert zu haben – sie wurden gemacht. Auf Basis der Tin Lizzy entstanden nicht nur diverse Karosserie-Varianten, sondern auch LKWs, ein Traktor und sogar ein Panzer. Und auch den heute trendigen Upcycling-Gedanken nahm Ford vorweg: Seinen Zulieferern machte die Firma genaue Vorgaben, wie groß die Holzkisten sein mussten, in denen diese ihre Bauteile lieferten. Die Kisten wurden zerlegt und von Ford ebenfalls verwendet – als Teile für das Modell T.

Infografik: 3D printing for the consumer market

In der Ausgabe 3/18 des Engine-Magazins ist auf Seite 45 eine handgezeichnete und englisch beschriftete Infografik von mir zu sehen. Thema ist eine Momentaufnahme: In welchem Spannungsfeld befindet sich gerade das Marktsegment der billigen 3D-Drucker für den Massenmarkt? Die Grafik im Heft illustriert einen Artikel von Karin Hirmer zum Thema Visualization und dient einfach als Beispiel für das Zusammenspiel von Grafik und Text.

(c) 2018 Peter König, visual-technotes.de / Alle Rechte vorbehalten

Die Zeichnung ist digital entstanden, auf einem iPad Pro mini mit Apple Pencil und der App Procreate. Für die schwarzen Linien benutze ich eine Fineliner-Pinselspitze, die ich mir selbst definiert habe.

Wer sich im Zeitraffer anschauen will, wie so eine Zeichnung entsteht, kann sich das im folgenden Video anschauen (Procreate erzeugt das dankenswerterweise automatisch nebenbei). Die reale Zeichenzeit betrug insgesamt etwa sechs Stunden.

Klassiker in Not – der Utah Teapot

Die Friesland Porzellanfabrik in Varel hat gestern angekündigt, zu Ende März 2019 nach 65 Jahren dichtzumachen. Das ist natürlich traurig – nicht nur, weil das Unternehmen seine Waren ausschließlich hierzulande produziert und dadurch viele Arbeitsplätze verloren gehen. Sondern auch, weil die Firma seit Jahrzehnten einen weltberühmten Star produziert, den paradoxerweise aber kaum jemand in der Porzellanabteilung suchen würde: den Utah Teapot.

(Bild: Friesland Porzellan)

Diese Teekanne kennen viele nämlich nicht aus der realen Welt, sondern aus dem virtuellen 3D-Raum. 1975 benötigte der Computergrafikforscher Martin Newell von der University of Utah einen mathematisch einfach zu beschreibenden, aber attraktiven Gegenstand und modellierte die Teekanne seiner Frau Sandra in 3D nach. Die Kanne wiederum war zwar in den USA gekauft worden, stammte aber ursprünglich aus Deutschland, eben aus jener Friesland Porzellanfabrik, welche die Kanne zwischen 1954 und 1991 unter dem Markennamen „Melitta“ herstellte. Produziert wird sie bis heute, in drei verschiedenen Größen, und inzwischen unter der Bezeichnung Utah Teapot.

Zwischendrin hieß sie auch mal schlicht „Haushaltsteekanne“. Denn in Varel hatte man lange Zeit gar keine Ahnung, welche Karriere der virtuelle Zwilling mittlerweile hingelegt hatte, wie die Kollegen von Radio Bremen bei einem Besuch in Varel im Mai erfuhren. Unbemerkt von der Porzellanfabrik mauserte sich die Daten-Version des Utah Teapot bald nach ihrer Modellierung durch Newell zu einem Standardobjekt in der frühen 3D-Computergrafik. Später, als ihre relativ schlichte Form für modernere Hardware und Render-Algorithmen keine Herausforderung mehr darstellte, hatte sich ihre typische Form bereits so im kollektiven Nerd-Gedächtnis eingebrannt, dass sie zum klassischen Meme wurde. Grafiker und Programmierer spendierten dem Teapot gerne Cameo-Auftritte in Animationsfilmen wie Toy Story oder auch in 3D-Software bis hin zum Windows-Bildschirmschoner.

Der „originale“ 3D-Utah-Teapot ist allerdings etwas anders geformt als das „echte“ Original von Friesland. Angeblich zeichnete Newell direkt am Teetisch eine Skizze der Kanne auf Papier und baute sie auf Grundlage seiner Zeichnung in der Uni in 3D nach.

Wer selbst noch einen realen, originalen Utah Teapot sein eigen nennen möchte, muss sich wohl leider sputen, denn wenn die Friesland Porzellanfabrik ihren Betrieb im kommenden Jahr einstellt, wird es irgendwann keine dieser Klassiker mehr zu kaufen geben. Aber vielleicht ergibt es ja so eine Art Crowdfunding, wenn jetzt noch genügend Leute ihrer Teekannensammlung dieses besondere Stück hinzufügen … Wir haben jedenfalls gerade eine bestellt.

InkTober: 31 Zeichnungen in 31 Tagen

In diesem Jahr habe ich erstmals beim Internet-Zeichenprojekt namens „InkTober“ mitgemacht. Das Kunstwort InkTober umfasst eigentlich schon alles, um was es geht: Wer Lust hat, zeichnet an jedem Tag im Oktober etwas mit Tusche (englisch: ink) und veröffentlicht es im Internet, im sozialen Netzwerk der Wahl, versehen mit dem Schlagwort #inktober oder #inktober2016 für die Aktion dieses Jahres.

Erfunden hat den InkTober der US-amerikanische Comiczeichner und Bilderbuchillustrator Jake Parker. Im Jahr 2009 wollte er seine zeichnerischen Fähigkeiten verbessern und stellte sich als Fingerübung selbst die Aufgabe, einen Monat lang jeden Tag eine Zeichnung zu machen. So wurde für ihn der Oktober 2009 zum InkTober – dem Tuschemonat. Diese Idee war ansteckend und inzwischen  beteiligen sich jedes Jahr viele tausend Zeichnerinnen und Zeichner am InkTober.

Meine täglichen Zeichnungen habe ich bei Instagram veröffentlicht – nicht an jedem Tag genau eine, aber immerhin alle innerhalb des vergangenen Oktobers. Hier gibt es sie aber noch mal in einer Übersicht:

Im Lauf der Tage und der Zeichnungen ist viel bei mir passiert – sowohl gestalterisch als auch technisch. Ein paar ausgewählte Aspekte davon will ich in den folgenden Blogposts beschreiben, die hoffentlich in den nächsten Tagen oder Wochen fertig werden.

Aufs Stichwort

Eigentlich gibt es für den InkTober keine weiteren Vorgaben, als jeden Tag zu zeichnen und die Ergebnisse im Netz zu veröffentlichen. Diese große Freiheit macht die Aufgabe aber noch anspruchsvoller, denn man braucht ja für jeden Tag auch eine neue Bildidee. Als Hilfe gibt es deshalb eine offizielle Stichwortliste von Jake Parker, an die ich mich nach anfänglichem Zögern dann doch gehalten habe (weshalb meine oben gezeigten Zeichnungen allsamt englische Titel tragen).

Eine einzige Ausnahme ist Bild Nummer 17: Eine Schlacht (Battle) konnte und wollte ich partout nicht zeichnen. Stattdessen habe ich für diesen Tag auf eine Zeichnung vom Wochenende zuvor zurückgegriffen, als ich zum ersten mal bei einem Treffen der Urban-Sketcher-Gruppe in Hannover dabei war.

Große Bandbreite

Seit Jake Parker im Jahr 2009 den ersten InkTober ausgerufen hat, haben sich weltweit immer mehr Zeichnerinnen und Zeichner der Aktion angeschlossen. Schon wenige Tage nach dem Start des InkTober 2016 meldete Parker, dass bereits über hunderttausend Beiträge auf den verschiedenen Plattformen veröffentlich worden wären.

Die Bandbreite ist dabei immens, sowohl was die Themen und Techniken, aber auch was den Anspruch und die Virtuosität angeht: Es beteiligen sich ebenso echte Zeichenanfänger wie jahrelang trainierte Hobbykünstlerinnen, aber auch etliche Profis aus dem grafischen Gewerbe am InkTober. Manche liefern brav und pünktlich täglich je eine Zeichnung ab, andere steuern im Lauf des InkTober nur zwei, drei Bilder in loser Folge bei. Viele produzieren ein recht homogenes Konvolut, zeichnen zum Beispiel einen Monat lang jeden Morgen die Fahrgäste, die mit ihnen zusammen im Bus sitzen. Andere widmen ihren gesamten InkTober sogar einem einzigen, zusammenhängendem Werk, wie Dani Diez, der den ganzen Monat über an einem Leporello arbeitete:

His Master’s Stroke

Auch wer sich an die Stichwortliste hält (sei es die offizielle von Jake Parker oder eine der vielen alternativen Begriffssammlungen, die parallel im Netz kursieren), kann damit dennoch sein ganz eigenes Thema kombinieren. So illustrierte etwa Brian Kesinger die Tagesthemen aus der Liste mit jeweils einem seiner Comic-Drachen, an denen ich als Betrachter viel Spaß hatte (und von denen sich ein entfernter Cousin dann am Tag 29 auch in eine meiner Zeichnungen mogelte):

Auch Jake Parker hat die 31 Begriffe seiner eigenen Stichwortliste mit selbst geschaffenen Protagonisten durchgespielt. Für eine Hauptfigur seines Buchs „Little Bot and Sparrow“ hat er sich eine Reihe neuer Situationen und Szenen ausgedacht und zu Papier gebracht. Manche von Parkers InkTober-Zeichnungen dieses Jahres scheinen direkt aufeinander zu folgen, ein durchgehender roter Faden fehlt allerdings. Deshalb nehme ich es dem Zeichner durchaus ab, wenn er auf Nachfrage versichert, dass er keine fertige Geschichte vorab im Kopf gehabt hat, als er seine Schlagwörter zusammengestellt hat.

Dass er auch seinen möglichen Vorsprung nicht ausgenutzt und heimlich vorgearbeitet hat, sieht man etwa auch an seinem Kommentar zur Zeichung vom 16. Oktober:

Ich finde es sehr sympathisch, dass der InkTober auch für Jake Parker selbst offenbar immer noch eine Herausforderung ist. Dass er während dieses Monats auch mal um und mit Ideen ringt, dass ihm die Zeit davonläuft. Und dass er insgesamt seine Zeichenaktion keineswegs als minutiös vorab durchgeplantes Marketing-Event für seine Bücher herunterspult, wie man vielleicht argwöhnen könnte, sondern wie alle anderen Mitzeichnerinnen und Mitzeichner das Risiko des Scheiterns nicht scheut – mit jedem Tag und jeder Zeichnung aufs neue.

Verlorene Welten

Manchmal schlägt das Gespräch mit den Kolleginnen und Kollegen in der Mittagspause seltsame Wege ein. So redeten wir kürzlich über Berlin und meine Gedanken rutschten unversehens zurück in die frühen 90er Jahre. Damals war ich spätestens alle paar Monate in Berlin – ich kannte dort Leute und wollte so oft wie möglich raus aus der badischen Provinz, wo ich meinen Zivi leistete, und hinein in die große Stadt. Und obwohl ich fast zwanzig Jahre nicht mehr daran gedacht hatte, fiel mir plötzlich wieder ein seltsamer Laden ein: die Blei Bar in der Fehrbelliner Straße (Hausnummer 6, wenn ich mich nicht irre).

Als Landei war ich offenbar so schwer von der Blei Bar beeindruckt, dass ich einen kleinen Text darüber schrieb. Weil das schon auf einem Computer passierte (der meinem Mitbewohner gehörte und auf dem übrigens noch kein Windows lief), entstand dieser Text bereits digital. So hat er sich in meinem von Rechner zu Rechner stets mitgezogenen Datenbestand bis heute erhalten:

„Die Blei Bar befand sich im Erdgeschoß eines ansonsten wohl leerstehenden Ziegelbaues aus der Gründerzeit, von dem – wie in diesem Viertel üblich – die Zementfassade gleich in Stücken von halben Quadratmetern abfiel. Alle Fenster waren verammelt, nur neben der abgestoßenen Haustüre glomm ein schwaches, zinnoberrotes Licht hinter einer blinden Opalglasscheibe, die mit kleinen eingeschliffenen Sternchen gemustert war. Auf die Scheibe hatte jemand kaum sichtbar und linkisch mit taubenblauem Lack aufgesprüht: Blei Bar. Aber das konnte man eigentlich erst lesen, wenn man schon wußte, was es heißen sollte.

Der Hausflur war stockdunkel, nach links führte ein schwach erleuchteter Gang ab, der an einer Tür endete. Schon hier war die Musik ohrenbetäubend. Denn hinter einem groben Mauerdurchbruch links vor der Tür lag die Bar: ein vollkommen kahles Zimmer von vielleicht sechs Metern im Quadrat, das eine Theke aus Stahlblech, fünf Barhocker, ein Sperrmüllsofa und eine Musikanlage enthielt. Auf dem einen Ende der Theke stand eine weinflaschenhohe Glühbirne mit gewendelten schwarzen Plastikfuß, deren Glühfaden die Form eines Edelweiß hatte. Das andere Ende der Theke zierte eine dreidimensionale Uhr mit Zeigern aus bunten Plastikfäden und Flitterbüschen, von unten beleuchtet, das ganze unter einer Art pyramidenförmigen Plexiglassturz gefangen. Auf der Theke standen sonst noch ein paar Bierflaschen und ein Diaprojektor. Der warf ein gemaltes Bild an die Wand: Jemand (der vielleicht noch ein Kind war) hatte auf blaue Folie ein seltsames Tier mit Hörnern gekrakelt und daneben „Kuh“ geschrieben. Über dem Sofa war mit roter Farbe eine Spirale von etwa zwanzig Zentimetern Durchmesser auf die Wand gepinselt, als hätte die Wand voll werden sollen, aber die Lust hatte nicht dafür gereicht. Ansonsten gab es überhaupt nichts: Mehr Details berichten hieße Kippen und Kronenkorken auf dem Boden zählen.

Morgens um drei, als wir in die Blei Bar kamen, waren dort fünf Leute. Einer beschäftigte sich mit der Musikanlage, die in in Presslufthammerlautstärke pulsierte. Zwei standen an der Theke und spielten Domino.  Einer hing am Fenster, hatte eine Postuniform an und hielt ein Weizenglas in der Hand. Am Diaprojektor fummelte ein blondes Mädchen in Kittelschürze herum, die eine blaue Sonnenbrille und eine hohe Ballonmütze aus rotem, steifen Filz trug. 

Die Toilette lag auf der anderen Seite des Flures und hatte eine zwei Meter breite Holztür, die jeweils ein Schild „Damen“ und „Herren“ trug. Der Raum war größer als die Bar selbst, enthielt aber nur eine einzige Schüssel, die in eine Ecke geflohen zu sein schien. Es gab noch ein Waschbecken mit einem Spiegel darüber, an dem ein Strauß trockner Rosen hing. Das Ganze erhellte eine Glühbirne, die in zwei aneinandergeschraubten Trabi-Rücklichtern steckte.“

Heute bekommt man nicht mehr viel raus über die Blei Bar. Im Internet hat sie jedenfalls keine direkten Spuren hinterlassen, denn das Netz gab es 1993 eben noch nicht. Immerhin habe ich dort ein Foto gefunden. Es stammt von der Fotografin Eva Otaño Ugarte und es wurde offenbar 2010 in einer Ausstellung gezeigt. Da gab es das Internet schon, und deshalb ist das Bild auch hier zu sehen:

Wo auf dem Bild links vorne der Schaukelstuhl steht, befand sich in meiner Erinnerung (die sich vor allem auf den Text oben stützt) das Sofa. Wenn ich ehrlich bin, hätte ich die Bar alleine nach dem Foto gar nicht wiedererkannt.

Eigentlich ist es Glück und Zufall, dass von der Blei Bar überhaupt ein Foto existiert. Damals hatte eigentlich niemand eine Kamera dabei. Man hatte auch kein Telefon dabei. In einem Club wie der Blei Bar konnten sich eigentlich alle sicher sein, weder angerufen noch fotografiert zu werden.

Keine Angst – es folgt hier jetzt kein Lamento, dass früher alles besser war, weil man damals ach so wilde Dinge tun konnte, ohne fürchten zu müssen, dass am nächsten Morgen das ganze Netz davon weiß. (So wild war das Leben damals auch nicht, jedenfalls meins nicht). Nein, im Gegenteil: Ich finde es schade, dass ich vor zwanzig Jahren eigentlich nie eine Kamera dabeihatte; es sei denn, ich zog vorsätzlich los, um Fotos zu machen.

Heute ist das anders – und ich finde es toll.

T_collage

Alles, woran ich mich später erinnern möchte, kann ich jetzt mal eben schnell mit meinem Telefon fotografieren. Das sind heute nicht mehr so oft Szenen aus der Kneipe, immer öfter hingegen Poster, Plakate, Graffiti, Lichtsituationen. So fiel mir zum Beispiel neulich ein Plakat mit einem wunderschönen Hintergrundmotiv auf. Ich habe den Bildnachweis fotografiert, hatte dann den Namen des Künstlers, konnte den googeln und fand das Bild wieder: les mondes engloutis (= die verlorenen Welten) von Tom Haugomat:

Klar, im Prinzip wäre das auch früher gegangen, ich hätte mir vor zwanzig Jahren den Namen des Grafikers einfach aufschreiben können. Nur: Was hätte ich dann damit angefangen? Wie hätte ich jemals mehr über ihn herausfinden können, mehr Bilder von ihm zu Gesicht bekommen können, von einem Illustrator im fernen Paris, in den Zeiten vor dem Internet?

Ich kann mich daran erinnern, dass ich in der Blei-Bar-Zeit mal in einer Berliner Hinterhofgalerie-Ausstellung eine Radierung sah, ein Porträt, das mich sehr faszinierte. Es sollte zwar keine hundert Mark kosten, aber soviel Geld hatte ich damals nicht. Vielleicht habe ich mir sogar den Namen des Künstlers oder der Künstlerin irgendwo aufgeschrieben und den Zettel dann verlegt, später mal wiedergefunden, die Verbindung zum Bild nicht mehr hergestellt und ihn dann weggeworfen. Wie auch immer das war, mir bleibt nur die Erinnerung daran, dass ich mal ein solches Bild gesehen habe – die Erinnerung an das Bild selbst ist längst verblasst, genauso wie die Erinnerung an die Paraphrase darauf, die ich davon mal selbst gemalt und anschließend verschenkt habe…

Besser, ich schreibe solche Notizen heute gleich ins Internet. Denn es heißt ja immer: Das Internet vergisst nichts. Das könnte ja auch mal seine guten Seiten haben.

Gibt es die "Santa Maria" wirklich noch?

Wer sich für Seefahrtgeschichte interessiert, dessen Fantasie wird durch die folgende Meldung mächtig angeregt: Angeblich hat der US-amerikanische Taucher und Historiker Barry Clifford ein schon seit 2003 vor Haiti gefundenes Schiffswrack jetzt als Überrest der Santa Maria identifiziert – des Flaggschiffes von Christoph Columbus auf seiner ersten Fahrt über den Antlantik in Richtung Westen, das dadurch zum wahrscheinlich berühmtesten Schiff aller Zeiten wurde. Am 24. Dezember 1492 lief es allerdings auf eine Sandbank vor der Insel Hispaniola, rollte aufgrund seiner Rumpfform bei ablaufendem Wasser auf die Seite, schlug leck und wurde am folgenden Tag aufgegeben.

Den Schlüssel zur angeblichen Identifizierung habe die Position des Wracks geliefert, schreibt die Süddeutsche Zeitung – in der Nähe seien 1977 bereits die Reste des von Columbus‘ Mannschaft errichteten Forts La Navidad gefunden worden. Auch die Größe soll hinkommen, zudem habe man Steine aus dem Ballast des Schiffes entdeckt, die „mit hoher Sicherheit aus Spanien stammen“ – ganz wie die Santa Maria.

Schaut man sich das Video bei CNN an, beschleicht einen allerdings der Eindruck, dass vom berühmtesten Schiff aller Zeiten auch gar nicht viel mehr übrig ist als dieser Haufen Ballaststeine. Das wundert nicht: Nach über 500 Jahren in seichtem tropischen Wasser existiert von einem reinen Holzschiff garantiert nur noch das, was tief im Sand gesteckt hat – ein Stückchen Kiel, ein paar Bodenstücke von Spanten, die eine oder andere Planke und eben der Steinballast.
Verwunderlicher fand ich eher, mit welchem Bild die Süddeutsche Zeitung ihren Artikel illustriert. Denn das zeigt ganz zweifelsfrei ein Schiff aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, noch dazu eines niederländischer Bauart:

Ich gebe ja zu, dass ich zuerst dachte, dass das ein typischer Fall von historischer Großzügigkeit sei, nach dem Motto: „Segelschiff ist Segelschiff, und weil keiner weiß, wie die Santa Maria ausgesehen hat, kann man eben irgendein Bild nehmen – Hauptsache drei Masten.“

Allerdings lautet die Bildunterschrift: „Die Santa Maria auf einem Gemälde von Andries van Eertvelt im National Maritime Museum in Greenwich, London“.

Das machte mich dann doch stutzig und ich schaute mal auf der Webseite des National Maritime Museum in Greenwich nach, was denn die Kolleginnen und Kollegen bei der SZ bewogen haben mochte, ausgerechnet diesem Schiff die Santa Maria zu sehen.

Die Erklärung ist simpel: Das Bild aus dem Jahr 1628 heißt schlicht The ‚Santa Maria‘ at Anchor und sollte als frühes Historienbild eine damals schon rund 130 Jahre zurückliegende Szene zeigen. Der Maler Andries van Eertvelt dachte sich offenbar: „Segelschiff ist Segelschiff, und weil keiner weiß, wie die Santa Maria ausgesehen hat, kann ich eben irgendein Schiff malen – Hauptsache drei Masten.“ Also pinselte er zwar ein südeuropäisches Meer und eine Küste, wie er sie auf seiner Reise nach Italien kennengelernt hatte, da hinein aber ein Schiff, dass er täglich auf der Nordsee sehen konnte, nach dem Stand der Technik des 17. Jahrhunderts.
In der abendländischen Malerei haben solche Zeitverschiebungen eine lange Tradition, deshalb spielen sich so viele biblische Geschichten in europäischen mittelalterlichen Städten ab, bevölkert von Heiligen, Jüngern und Philistern, die nach dem letzten Schrei der Spätgotik gekleidet sind … Aus dem ausgehenden Mittelalter kannte ich das. Dass es sowas noch im goldenen Zeitalter der niederländischen Barockmalerei gegeben hat, war mir neu.

Nachtrag am 14. Mai 2014: Inzwischen berichtet die Süddeutsche Zeitung schon über Zweifel an der Identität des Schiffes.

Pointillismus selbst gemacht

Bei den Evil Mad Scientist Laboratories kann man DIY- und Open-Source-Hardware für „Kunst, Unterricht und die Weltherrschaft“ kaufen – beispielsweise den Bausatz eines Stiftplotters, der Eier bemalt (gibt es auch in einer größeren Ausführung für Straußeneier und ähnlich voluminöse Rundkörper). Manches bekommt man von den Laboratories aber auch geschenkt, zum Beispiel die wunderbare Software StippleGen 2.

Das Programm lädt ein beliebiges Bild und setzt es in ein Muster verschieden großer Punkte um – zur Wahl stehen weiße Punkte auf schwarzem Grund oder schwarze Punkte auf weißem Grund. Die Punkte sind anders als beim klassischen Klischee nicht in einem festen Raster angeordnet, sondern ihre Position wird im Lauf von einigen Durchläufen des Programms mit Hilfe eines Voronoi-Diagramms optimiert.

Das Programm ist innerhalb meines Lieblings-Software-Biotops Processing entwickelt worden. Da die Evil Mad Scientists ihre Anwendung auch noch unter eine Open-Source-Lizenz gestellt haben, kann sich jeder den Code herunterladen, in Processing öffnen und nach eigenem Bedarf verändern. Die Software läuft aber auch als eigene Anwendung unter Windows, Mac OS X und Linux, sodass man sie einfach so benutzen kann, auch wenn man Processing selbst gar nicht installiert hat.

Nach dem Start fängt StippleGen 2 sofort an zu arbeiten. Als erste Vorlage dient ein mitgeliefertes Foto von Grace Kelly (nein, das sieht man nicht oben im Screenshot). Diesen Vorlauf kann man stoppen und statt dessen ein Bild von der eigenen Festplatte laden. Dann stellt man Parameter wie die Zahl der Punkte und die Spanne zwischen ihrer minimalen und maximalen Größe mit Schiebereglern ein und lässt das Programm so viele „Generationen“ durchrechnen, bis das Ergebnis gut aussieht.

Das Ergebnis kann man als SVG-Datei speichern und zum Beispiel in Inkscape öffnen. Im SVG-Layout ist die Seitengröße zwar mit etwas skurrilen 3200 × 800 Pixeln angegeben, weil StippleGen 2 eigentlich dafür gedacht ist, Vorlagen für den oben erwähnten Eierplotter zu liefern. Das Format lässt sich aber nachträglich den eigenen Vorstellungen anpassen und das Bild auf jede gewünschte Größe aufziehen – ist ja schließlich Vektorgrafik. Mir geistern da gerade schon ein paar Ideen im Kopf herum, was man mit den schönen Punktmustern so alles anstellen könnte … wenn es klappt, wird davon hier zu lesen sein. Versprochen.

Warum Kuli und nicht Kugi?

Schon lange frage ich mich, warum Kugelschreiber immer nur Kuli genannt werden – dabei wäre Kugi doch eigentlich viel logischer. Oder?
Auf der Wikipedia-Seite zum Stichwort Kugelschreiber steckt der entscheidende Hinweis schon im ersten Absatz:

„Die umgangssprachliche Kurzform Kuli bezeichnete ursprünglich den 1928 von Rotring entwickelten Tintenkuli.“

Der Tintenkuli wiederum war mit dem Füller verwandt, hinterließ im Unterschied zu diesem aber stets Striche in exakt gleicher Stärke, egal, in welche Richtung man ihn übers Blatt zog. Man konnte damit offenbar auch präzise technische Zeichnungen anfertigen, musste ihn aber recht diszipliniert ziemlich steil halten, wie man liest.
Da ist der Kugelschreiber weniger anspruchsvoll: Als er in den 40er Jahren auf dem Markt auftauchte, verdrängte er den Tintenkuli schnell, kaperte aber nebenbei dessen Kurzbezeichnung Kuli. Die Technik des ursprünglichen Kulis mit Röhrchenfeder und Tintentransport durch Kapillarwirkung entwickelte der Hersteller Rotring später weiter – die technischen Tuschezeichenstifte namens Isograph und Rapidograph stammen vom Tintenkuli ab.
Bleibt nur die Frage: Wie kam Rotring im Jahr 1928 auf den Namen für seinen Stift? Tatsächlich gab es das Wort offenbar schon vorher. Zumindest ist es in Otto Ladendorfs Historischem Schlagwörterbuch aus dem Jahr 1906 aufgeführt:

Tintenkuli ist ein vermutlich von Maximilian Harden aufgebrachter verächtlicher Ausdruck für den journalistischen Lohnschreiber.“

Da erschließt sich mir spontan kein direkter Zusammenhang. Aber weiter unten heißt es:

„Das dem Ostindischen entstammende Wort Kuli bezeichnet jetzt allgemein die indischen und chinesischen Lastträger …“

So wie der Kuli die Lasten transportiert, so transportiert der Tintenkuli die Schreibflüssigkeit. Das könnte der Gedanke bei der Namensgebung gewesen sein. Ein bisschen seltsam wirkt die Metapher aus einem Jahrhundert Distanz betrachtet aber schon.

Spitze einer hochwertigen Kugelschreibermine unter dem Mikroskop. Die Kugel ist tatsächlich so präzise geformt, dass man darin die Spiegelung der Umgebung erkennen kann.

Spitze einer hochwertigen Kugelschreibermine unter dem Mikroskop. Die Kugel ist tatsächlich so präzise geformt, dass man darin die Spiegelung der Umgebung erkennen kann – jedenfalls, wenn es dabei was interessantes zu sehen gibt, was hier im Bild zugegebenermaßen nicht der Fall ist.