Ein Kajak voll Assoziationen

Die englische Webseite Instructables.com ist ja immer für eine überraschende Bastelidee gut. Vorgestern wies deren Twitter-Kanal auf eine Baubeschreibung hin, die mich immer noch beschäftigt.

Das Community-Mitglied johntonta hat sich ein Kajak gebaut, auf ganz traditionelle Weise, ähnlich wie die Inuit über Jahrhunderte ihre Boote gefertigt haben. Jene verwendeten dafür früher zum Beispiel die Rippen erlegter Wale und Robbenhaut. In der Arktis war so was eben zur Hand und machte sich auf diese Weise noch nützlich.
John hat dieses Prinzip übertragen und zu Material gegriffen, das in seiner natürlichen Umgebung ebenfalls leicht zu bekommen ist: Das Gerippe seines Kajaks besteht aus Schreibtischholz, zusammengebunden mit Kabeln aus Computern. Überzogen ist es mit einer Haut aus – ja, Business-Anzügen.

Die Anzüge habe er aufgetrennt, schreibt er in seiner Bauanleitung Turn your office into a kayak, dann daraus eine große zusammenhängende Bahn genäht, diese anschließend um das Gerippe gewickelt und mit einer Mischung aus Öl und Wachs wasserfest imprägniert.

Offenbar wollte John einfach nur ein Boot bauen und hat bei der Materialauswahl etwas um die Ecke gedacht. Ich hätte allerdings keine Scheu, seinen Kajak in eine Galerie und damit einen Kunst-Kontext zu stellen. Ich finde, dass das Boot eine richtig gute künstlerische Arbeit abgäbe – so viele Assoziationen und Metaphern sind da mit an Bord.

Sie beschäftigen mich nachhaltig.

Gibt es die "Santa Maria" wirklich noch?

Wer sich für Seefahrtgeschichte interessiert, dessen Fantasie wird durch die folgende Meldung mächtig angeregt: Angeblich hat der US-amerikanische Taucher und Historiker Barry Clifford ein schon seit 2003 vor Haiti gefundenes Schiffswrack jetzt als Überrest der Santa Maria identifiziert – des Flaggschiffes von Christoph Columbus auf seiner ersten Fahrt über den Antlantik in Richtung Westen, das dadurch zum wahrscheinlich berühmtesten Schiff aller Zeiten wurde. Am 24. Dezember 1492 lief es allerdings auf eine Sandbank vor der Insel Hispaniola, rollte aufgrund seiner Rumpfform bei ablaufendem Wasser auf die Seite, schlug leck und wurde am folgenden Tag aufgegeben.

Den Schlüssel zur angeblichen Identifizierung habe die Position des Wracks geliefert, schreibt die Süddeutsche Zeitung – in der Nähe seien 1977 bereits die Reste des von Columbus‘ Mannschaft errichteten Forts La Navidad gefunden worden. Auch die Größe soll hinkommen, zudem habe man Steine aus dem Ballast des Schiffes entdeckt, die „mit hoher Sicherheit aus Spanien stammen“ – ganz wie die Santa Maria.

Schaut man sich das Video bei CNN an, beschleicht einen allerdings der Eindruck, dass vom berühmtesten Schiff aller Zeiten auch gar nicht viel mehr übrig ist als dieser Haufen Ballaststeine. Das wundert nicht: Nach über 500 Jahren in seichtem tropischen Wasser existiert von einem reinen Holzschiff garantiert nur noch das, was tief im Sand gesteckt hat – ein Stückchen Kiel, ein paar Bodenstücke von Spanten, die eine oder andere Planke und eben der Steinballast.
Verwunderlicher fand ich eher, mit welchem Bild die Süddeutsche Zeitung ihren Artikel illustriert. Denn das zeigt ganz zweifelsfrei ein Schiff aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, noch dazu eines niederländischer Bauart:

Ich gebe ja zu, dass ich zuerst dachte, dass das ein typischer Fall von historischer Großzügigkeit sei, nach dem Motto: „Segelschiff ist Segelschiff, und weil keiner weiß, wie die Santa Maria ausgesehen hat, kann man eben irgendein Bild nehmen – Hauptsache drei Masten.“

Allerdings lautet die Bildunterschrift: „Die Santa Maria auf einem Gemälde von Andries van Eertvelt im National Maritime Museum in Greenwich, London“.

Das machte mich dann doch stutzig und ich schaute mal auf der Webseite des National Maritime Museum in Greenwich nach, was denn die Kolleginnen und Kollegen bei der SZ bewogen haben mochte, ausgerechnet diesem Schiff die Santa Maria zu sehen.

Die Erklärung ist simpel: Das Bild aus dem Jahr 1628 heißt schlicht The ‚Santa Maria‘ at Anchor und sollte als frühes Historienbild eine damals schon rund 130 Jahre zurückliegende Szene zeigen. Der Maler Andries van Eertvelt dachte sich offenbar: „Segelschiff ist Segelschiff, und weil keiner weiß, wie die Santa Maria ausgesehen hat, kann ich eben irgendein Schiff malen – Hauptsache drei Masten.“ Also pinselte er zwar ein südeuropäisches Meer und eine Küste, wie er sie auf seiner Reise nach Italien kennengelernt hatte, da hinein aber ein Schiff, dass er täglich auf der Nordsee sehen konnte, nach dem Stand der Technik des 17. Jahrhunderts.
In der abendländischen Malerei haben solche Zeitverschiebungen eine lange Tradition, deshalb spielen sich so viele biblische Geschichten in europäischen mittelalterlichen Städten ab, bevölkert von Heiligen, Jüngern und Philistern, die nach dem letzten Schrei der Spätgotik gekleidet sind … Aus dem ausgehenden Mittelalter kannte ich das. Dass es sowas noch im goldenen Zeitalter der niederländischen Barockmalerei gegeben hat, war mir neu.

Nachtrag am 14. Mai 2014: Inzwischen berichtet die Süddeutsche Zeitung schon über Zweifel an der Identität des Schiffes.

Kein Dampf ohne Rauch

Wo eine Dampfmaschine Dienst tut, ist Qualm nicht weit. So sieht es jedenfalls auf Fotos aus jener Zeit aus, als Dampfmaschinen noch die einzige ernstzunehmende Kraftquelle für Großtechnik wie Lokomotiven, Schiffe oder Fabriken waren. Hier zwei Beispiele aus der Commons-Sammlung von Flickr: Oben qualmen im Jahr 1915 der australische Truppentransporter Warilda und ein Schlepper um die Wette, unten läuft die Mauretania 1907 zu ihrer Jungfernfahrt aus.

TransporterMitSchlepper

Mauretania

Auch heute bekommt man gelegentlich noch die Gelegenheit, eine Dampfmaschine aus nächster Nähe in Aktion zu erleben – zum Beispiel im Hamburger Museumshafen Oevelgönne, an Bord des Schleppers Tiger. Die Tiger ist mit ihrem Baujahr 1910 nur wenige Jahre jünger als die Mauretania und ihr Fünf-Kubikmeter-Kessel wird nach wie vor mit Kohle geheizt.

TigerWinterNah

Eher durch Zufall gerieten wir heute vor genau vier Jahren an Bord der Tiger, an einem Tag, an dem die Wasseroberfläche der Elbe praktisch völlig unter Eisschollen verschwand und der Himmel grau verhangen war. An Deck wärmte der Glühwein, unter Deck das Kohlenfeuer unter dem Kessel. Es wurde eine unvergessliche Hafenrundfahrt, kreuz und quer zwischend den Containerriesen hindurch, im Schritttempo durch die schmalsten Lücken und dauernd vom Eis umgeben.

TigerWinterFern

An den Landungsbrücken gingen wir nach gut zwei Stunden von Bord und konnten dann das 17-Meter-Schiff auf dem gegenüberliegenden Elbufer davondampfen sehen (oben ganz links, klein und schwarz im Bild). Die Rauchfahne aus dem Schornstein wurde sicher durch die kalte Luft verstärkt (die Temperatur lag den ganzen Tag über knapp unter Null) und war ziemlich imposant. Im Vergleich mit den Bildern von vor hundert Jahren fällt aber auf, dass der Qualm aus der Ferne eher weiß als schwarz aussieht.

Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man Fotos von Dampfern auf der Elbe betrachtet, die im Sommer aufgenommen wurden: Oben wieder die Tiger, unten die Schaarhörn, deren Kessel ebenfalls noch mit Kohle befeuert wird.

TigerSommer

Schaarhoern

Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, was der Grund für den weißen Rauch aus den Schornsteinen der Museumsschiffe im 21. Jahrhundert ist. Allerdings verschleiert die Assoziation Dampfmaschine → Qualm die Tatsache, dass die Heizenergie theoretisch auf beliebige Art und Weise erzeugt werden könnte, je nachdem unter mehr oder weniger Produktion von Qualm. Würde man den Kessel beispielsweise elektrisch heizen, bräuchte man gar keinen Schornstein mehr, weil kein Rauch abzuführen wäre. Ok, ich gebe zu, das ist technisch eine blödsinnige Idee – als Gedankenspiel finden ich es aber interessant.

Tatsächlich werden sogar heute noch neue Dampfmaschinen gebaut, von der schweizerischen Dampflokomotiv- und Maschinenfabrik DLM in Winterthur. Die werden mit Leichtöl befeuert und von ihrem Hersteller mit dem Slogan modern steam beworben. Der nach diesem Prinzip umgerüstete Genfer-See-Dampfer Montreux fährt jetzt völlig ohne Qualm über dem Schornstein, aber dennoch mit Dampf:

Ein bisschen seltsam sieht das Bild für mich aber dann doch aus. Es zeigt einen Dampfer in flotter Fahrt, dem man aber die Dampfmaschine unter Deck gar nicht ansieht. Irgendwas fehlt. Am Ende ist es dann doch der Qualm, der das nostalgische Klischee komplettieren würde. Ich denke: Säße ich am Ufer des Genfer Sees und zeichnete die Montreux im Vorbeifahen, ich würde ihr eine dunkle Wolke über den Kamin setzen. Realismus hin oder her.